Mein ganzes Leben verbrachte ich zur falschen Zeit am falschen Ort. So fühlte es sich zumindest an. Als würde in der Ferne ein Nebelhorn meinen Namen rufen, das nur ich hören konnte. Ich verzehrte mich nach einer höheren Aufgabe, von der ich aber nicht einmal selbst wusste, wie sie lautete.
Diese Sehnsucht nach einem mehr wurde gerade wieder unerträglich. Sodass ich mich kaum noch selbst erkannte und absolut jede Entscheidung in meinem Leben infrage stellte. Kein guter Tag.
Zu meinem Glück war es aber auch der eine Tag in der Woche, den mein Halbbruder und ich in der Stadtbibliothek verbrachten. Hier fühlte ich mich wohl. Der himmlische Geruch der alten Bücher fing mich völlig ein.
Dieser spezielle Duft hatte mich schon immer beschäftigt und vor Kurzem war ich sogar über eine Studie dazu gestolpert, die erklärte, warum Bücher überhaupt einen Geruch absonderten. Es lag daran, dass beim Voranschreiten der Zeit im Papier chemische Verbindungen entstanden. Es waren komplexe Stoffe, von denen man manche kaum aussprechen konnte. Jedoch drei davon blieben prägnant in meinem Gedächtnis hängen.
Bittermandel, Essig und Vanille.
Ich schritt die wuchtigen Regale ab und erwischte mich dabei, wie ich die Luft nach diesen Bestandteilen beschnupperte. Vielleicht war es dem Umstand geschuldet, dass ich durch die Studie von ihnen wusste, und mir jetzt einbildete, sie deutlich identifizieren zu können. Sie schwebten geradewegs aus den Geschichten zwischen den Buchdeckeln heraus und an mich heran.
Beschwingt drehte ich mich einmal herum und ließ meinen Blick dabei genüsslich über das dunkle Holz der Regale schweifen und über die Abenteuer, die dazwischen aufgereiht standen. So ein Besuch in der Bibliothek half mir dabei, Tage zu überstehen, die ich vorüber wissen wollte. Nur zu gern ließ ich mich von den Geschichten vereinnahmen. Flüchtete in sie hinein. Die Bestandteile eines Geruchs waren das eine. Den eigentlichen Reiz machten die Erinnerungen aus, die man damit verband.
Bücher ließen mich immer an Augenblicke mit meinem Dad denken und die vertraute Wärme darin. Die Art, mit der er die Lippen schürzte, während er mir den Dialog zwischen Fabelwesen vorlas. Meine eigene Vorfreude, wenn er voller Heiterkeit Gebäck vorbereitete. Seine Umarmungen. Sein Lächeln, das ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Wie sehr ich es vermisste. Ihn vermisste.
Der Holzboden knarzte unter meinen Schritten. Das Geräusch hallte von den hohen Steinwänden zurück. Oft betrachtete ich die Kratzer und Rillen darin. Wie viele Menschen hier wohl schon entlang gegangen waren?
Die Bücherei war der ganze Stolz dieses Stadtteils und trotzdem fehlten die finanziellen Ressourcen, um das Inventar zu sanieren oder regelmäßig neue Bücher anzuschaffen. Kurzum wurde sie vor allem gerne besucht und angesehen, gelesen wurde hier selten. Der ehrwürdige Charme dieser Einrichtung ließ mein Herz höher schlagen, wann immer ich hier war.
Ich spielte an dem silbernen Narwal-Anhänger herum, der kurz über dem Schlüsselbein kühl auf meiner Haut ruhte. Mit der anderen Hand fuhr ich in einer angedeuteten Berührung über die Buchrücken und überflog dabei die Titel.
An jedes Werk, das ich schon einmal gelesen hatte, machte ich im Geiste einen Haken. Sicher hätte ich eines herausziehen und mitnehmen können, um es erneut zu lesen. Doch ich wollte weiterhin in der sanften Umarmung der Umgebung verweilen, die mir so vertraut war.
Trotzdem machte sich zunehmend ein flaues Gefühl in meinem Magen breit. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil mich wieder diese wütende Sehnsucht überkam. Der Drang nach mehr.
Schwer legte er sich auf meine Brust und schnürte mir die Luft ab. Kurz schloss ich die Augen und ließ es zu. Nur für einen Moment gab ich mich ihm hin. Als sich mein schlechtes Gewissen meldete, zwang ich mich, im Geiste die Dinge aufzuzählen, die so viel Dankbarkeit in mir auslösten und die mein Leben zu dem machten, was es war. Allem voran meine Familie. Meine herrlich verrückte Familie.
Es half. Langsam ebbte das Gefühl der Beklemmung wieder ab. Es verzog sich zurück in die Ecke meines Hirns, wo es stetig lauerte und nur darauf wartete, laut zu werden.
Noch während meiner Zeit am College hatte ich durch Mom eine Stelle in der Buchhaltungsabteilung einer Marketingagentur ergattern können. Meine Arbeit hatte darin bestanden, die unterschiedlichsten Botengänge zu erledigen.
Nach meinem Abschluss war ich dennoch geblieben, was sich für mich gelohnt hatte. Mittlerweile war ich seit drei Jahren dort und für die wesentlichen Tätigkeiten zuständig. Es war nicht der aufregendste Job, aber ich konnte die Rechnungen bezahlen und wusste mich abgesichert.
Trotzdem kam ich nicht an diesem Kratzen im Inneren vorbei. Das, was mir zuflüsterte, es müsste noch mehr für mich geben.
Dort draußen wartete eine Welt voller Möglichkeiten. Stattdessen jonglierte ich als Buchhalterin Zahlen in einem klimatisierten Raum ohne Fenster.
Gedankenverloren biss ich mir auf die schmalen Lippen. Sie passten zu der spitzen Nase und den feinen Zügen, die mein Gesicht zierten.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und schüttelte die Schultern aus, die über mein Grübeln steif geworden waren. Geräuschvoll ließ ich die Luft wieder durch meinen Mund entweichen und ergriff den nächstbesten Titel, der vor mir stand.
Bücher. Sie waren meine Rettung. In ihnen konnte ich reisen, wohin ich wollte.
Ich musterte das Cover in meiner Hand, als im Augenwinkel etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Sofort hob ich den Blick wieder und blinzelte angestrengt in die Lücke, in der das Buch eben noch gestanden hatte.
Ein spitzer Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich wich so heftig zurück, dass mir die langen blonden Haare einen Moment die Sicht nahmen und ich gegen das nächste Regal stieß. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Rücken aus und rang mir ein Zischen ab.
Mein Rock bauschte sich auf, als ich langsam an dem Holz zu Boden rutschte, während ich mit pochendem Herzen und weit aufgerissenen Augen noch immer die Stelle anstarrte. Ich suchte nach einer rationalen Erklärung, aber konnte die Gänsehaut nicht leugnen, die dafür gesorgt hatte, dass sich jedes Haar an meinem Körper aufstellte. Zwar war mir die Sicht darauf nun versperrt, aber der Anblick hatte sich auf meine Netzhaut gebrannt.
Zwischen den Büchern hatte mich jemand beobachtet. Jemand, dessen Augen tiefschwarz waren. Zumindest glaubte ich, dass es so gewesen war. Ich hatte weder das Weiß gesehen, noch eine Iris oder Pupille.
Nur einen Augapfel, so dunkel wie die Tiefsee.
»O Shit! Entschuldige!«, hörte ich eine aufgeregte Stimme.
In meinem Kopf rasten die Gedanken, aber ich konnte mich kein Stück bewegen. Wie versteinert beobachtete ich den Mann, der in meinen Gang geeilt kam. Ich verengte die Augen zu Schlitzen, weil mein Sichtfeld anfing zu pulsieren. Vielleicht hatte ich mir den Kopf doch heftiger gestoßen, als zunächst angenommen. Ich erkannte die gebräunte Haut, den Bart und die buschigen Augenbrauen. Es war das Gesicht, auf das ich durch den Spalt im Bücherregal einen Blick werfen konnte, aber jetzt sahen seine Augen normal aus.
Voller Verwirrung blinzelte ich ein paar Mal, während sich meine Atmung langsam beruhigte und sich die Sicht etwas klärte.
Hier saß ich, platt, auf meinem Hintern, und hielt mir eine Hand auf die Brust. Jetzt da die Gefahr so schnell gebannt schien, musste ich innerlich über meine Reaktion lachen. Zwar war ich schon fünfundzwanzig Jahre alt, dem Schrei nach zu urteilen, hätte man mich aber auf höchstens zwölf geschätzt.
Der Mann ließ den Bücherwagen, den er an der Hand führte, hinter sich auf dem Flur stehen und ging vor mir in die Hocke. Wofür ich ihm dankbar war, denn er war ziemlich groß. »Hast du dir weh getan?« Seine Stimme war warm und klar.
Ich schätzte, dass er ungefähr in meinem Alter war. Vielleicht ein wenig älter. Sein Bart war dicht und genauso schwarz, wie seine Augenbrauen und die kurzen Haare.
An seinen Knien spannte sich die dunkle Jeans. Er trug ein Flanellhemd mit groben Karos in Rot- und Schwarztönen, das er nicht zugeknöpft hatte. Die Ärmel waren hochgekrempelt, sodass ich die Sehnen an seinen Unterarmen, die er auf den Oberschenkeln ruhen ließ, hervortreten sah. Über der Brust lag dunkelgrauer Stoff eng an, der unfassbar weich aussah. Die Anhänger der beiden Ketten, die er trug, schwangen hin und her.
Meine Aufmerksamkeit wanderte zu seinen Augen. Ich nahm sie genau unter die Lupe. Zwar hatte ich nur eine Sekunde gebraucht, um mich für verrückt zu erklären und einzusehen, dass ich mich verguckt haben musste, trotzdem wollte ich sichergehen.
Die Form seiner Augen war dieselbe, aber sie waren hell und stahlgrau. Nicht schwarz. Die Lichtverhältnisse mussten mir einen Streich gespielt haben.
Ich bemerkte, dass sich seine Augenbrauen bewegten und er den Kopf schräg legte. Da wurde mir bewusst, wie lange ich ihn schon anstarrte.
Meine Wangen standen in Flammen. Außerdem war ich ihm noch eine Antwort schuldig. »Nein. Nichts passiert«, stotterte ich und fing an, mich an dem Regal in meinem Rücken hochzuziehen.
Ich riskierte einen weiteren schnellen Blick, doch seine Augen waren noch immer hell. Der Kontrast zu dem dunklen Haar war beinahe surreal und raubte mir den Atem.
Das lenkte mich so sehr ab, dass ich nicht mitbekam, wo ich meine Finger anlegte. Sie rutschten auf dem Regalbrett zur Seite und ließen ein Paar Bücher herunterfallen. Ich stieß einen lautlosen Fluch aus und bückte mich schnell nach den herumliegenden literarischen Werken, um diese einzusammeln.
»Es ist ein Verbrechen, Bücher rumzuwerfen«, sagte ich mit zittriger Stimme und lachte nervös, als ich mich erhob. Kurz wandte ich ihm den Rücken zu, um den kleinen Stapel ins Regal zu sortieren.
»Was schlägst du als Strafe vor?« Sein Lachen klang kehlig und aktivierte etwas in meinem Magen, das freudig hüpfte.
Darum bemüht, mir das nicht anmerken zu lassen, hielt ich inne und sah ihn mit einem verurteilenden Blick an. Ich hatte das Gefühl, etwas klarstellen zu müssen. »Was?«
Ein spitzbübisches Lächeln breitete sich auf seinen schmalen Lippen aus. Ich konnte nicht anders, als es ihm nachzumachen. Mist!
»Ich bin Ben.«
»Amelia«, hauchte ich. Sofort räusperte ich mich und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Amelia Valery. Aber die meisten nennen mich Ava.« Für mein Gestottere hätte ich mich ohrfeigen können. So peinlich!
»Wegen der Anfangsbuchstaben deiner Namen?«, fragte er und setzte sich in Bewegung, um zu seinem Wagen zurückzukehren.
Ich folgte ihm und nickte.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Ava.« Er wandte sich der Unordnung auf dem Wagen zu und stapelte ein paar der Bücher übereinander. Meine Zerstreutheit schien ihm gar nicht aufzufallen. Oder er ignorierte sie geschickt.
»Das mit den Büchern sei dir verziehen.« Ein Zwinkern huschte über sein Gesicht. »Ich habe nicht damit gerechnet, hier jemanden zu treffen. Tut mir leid, dass du dich erschreckt hast«, sagte er.
»Das macht nichts. Heute ist sowieso nicht mein Tag.«
Wieder legte Ben den Kopf schräg und seine Augen nahmen einen fragenden Ausdruck an. Den Stapel Bücher in seiner Hand legte er auf dem Wagen ab und bedeutete mir mit einer Geste, dies auch zu tun. »Solche Tage kenne ich leider nur zu gut. Willst du darüber sprechen?«
»Das ist wirklich nett, aber ich komme schon klar.« Ich musste seinem Blick ausweichen, weil mich das Angebot so unvorbereitet traf. Es war wirklich freundlich von ihm, aber wir kannten uns doch gar nicht.
»Also, ansonsten ...«, er legte die großen Hände auf den langen Griff des Wagens, der dadurch noch schmaler wirkte. »Ich bin kein Barkeeper, dem man sein Herz ausschütten kann, nur Bibliothekar, aber ...«
Meine Augen wurden groß. »Ach, du bist der neue Bibliothekar!«
»Du weißt über die Einstellungsverhältnisse dieser Bücherei Bescheid?«, stutzte er und die Fältchen an seinen Augen wurden länger. »Wie klein ist diese Stadt?«
Das entlockte mir ein Lachen. Portland war ganz sicher alles, nur nicht klein. »Nein. Es ist nur ... Mrs Banner erzählte meinem Bruder und mir vor etwa drei Wochen, dass sie jemanden suchen will, der sie hier unterstützt.«
Er grinste und hob kurz die Hände, wobei er mir seine Handflächen zeigte. »Nun, sie hat jemanden gefunden.« Als er erneut den Wagen ergriff, zögerte er kurz. »Der kleine vorwitzige Junge unten gehört also zu dir?«
Bei dem Gedanken an Nathan, wie er im Erdgeschoss auf einem der Sitzsäcke in der Kinderabteilung saß und die Mitarbeiter ärgerte, presste ich belustigt die Lippen aufeinander. Sicher verschlang er ein Buch nach dem anderen und gab nur zu gern sein Wissen weiter. Bescheidenheit war keine Stärke, die mein Bruder oft zum Besten gab. »Kurze braune Haare? Zehn Jahre alt? Und hat dich darauf hingewiesen, dass du niemals so viel lesen könntest wie er?«
»Ja«, bestätigte Ben und lachte gedehnt. »Mir wurde so etwas in der Art gesagt. Und er hat mir in aller Ausführlichkeit erklärt, dass er hier so viel lesen muss, wie er kann, weil er nur noch zehn Bücher pro Woche ausleihen darf.«
»Mrs Banners Anweisung war da sehr konkret formuliert.« Die Erinnerung daran ließ mich breit grinsen.
»Seid ihr denn wirklich jede Woche hier?«
»Jap, immer dienstags.« Ich zuckte mit den Achseln.
»Schön.« Für einen Moment senkte er die Lider. Schließlich setzte er den Wagen in Bewegung und das Grinsen, mit dem er mich bedachte, war noch breiter als zuvor. »Dann werden wir uns sicher wiedersehen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in einem anderen Gang.
Ein Lächeln umspielte meine Lippen, während ich ihm nachsah. Der Duft der Bibliothek vereinnahmte mich wieder nach und nach. Bittermandel kitzelte mir in der Nase.
Es war wirklich faszinierend, entstand der Geruch alter Bücher letztlich doch aus Verfall. Das Papier wurde alt und im schlimmsten Fall zerfiel es sogar zu Staub.
Eine Symphonie aus Schönheit und Verderben.