Moms Lachen war eine Mischung aus Glockenklang und Koboldgeheul. Es war das glücklichste, lauteste und vor allem verrückteste, das ich kannte. Wann immer sie lachte, musste jeder mit einstimmen. Jetzt gerade konnte sie nicht an sich halten, weil ich ihr von der Diskussion berichtete, die Nathan mit Mrs. Banner gehabt hatte, als wir die Bücherei wieder verlassen wollten.
Ich zählte ihr die enorme Menge an, wie ich fand, sehr validen Argumenten auf. Er hatte versucht, der Bibliothekarin glaubhaft zu machen, dass die vierzehn Bücher, die er ausleihen wollte, technisch gesehen nur zehn wären.
»Er wird diese arme Frau noch ins Grab bringen.« Mom wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ihre vollen Lippen formten ein Lächeln.
Ich stützte mich mit den Händen auf die Arbeitsfläche der Küche und lehnte die Hüfte gegen den Schrank darunter. Das dümmliche Grinsen auf meinen Lippen war mir mehr als bewusst und auch, dass es nicht nur Nathans Debattierkünsten geschuldet war.
»Ist das nicht schön?«, fragte ich meine Mutter, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Er liebt Bücher genauso wie ich.«
Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck formte tiefe Grübchen in ihren Wangen, für die ich sie schon immer beneidet hatte. Ihre braunen Haare waren von feinen blonden Strähnen durchzogen. Sie trug die langen Locken halb hochgesteckt, damit sie ihr nicht ins Essen fielen. Unter den definierten Brauen leuchtete das Haselnussbraun in ihren Augen beinahe golden. In diesem Augenblick wurde mir mal wieder bewusst, wie ähnlich mein Äußeres dem meines Vaters war, denn mit Mom hatte ich nicht viel gemein.
»Dein Bruder liebt dich«, erklärte sie feierlich und ihre Augen waren voller Zuneigung. »Wenn du Kaugummis von der Straße sammeln würdest, würde er auch das mit Freuden tun.«
Dafür hatte ich nur einen sparsamen Gesichtsausdruck übrig.
»Aber ich unterstütze die Bücher.« Sie zeigte erst auf sich und dann in die Luft, bevor sie sich wieder kichernd ihrem Kochtopf widmete.
Durch die geöffneten Flügeltüren beobachtete ich Nathan, der im Wintergarten an einem drahtigen Metalltisch saß und Hausaufgaben machte. Eifrig ließ er seinen Bleistift über das Papier wandern und rieb sich dabei immer wieder über die Stirn.
»Du hast heute ja besonders gute Laune. Ist auf der Arbeit etwas Schönes passiert?«
Ich sah sie nicht an, aber mein ganzer Körper versteifte sich. Sie könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen. »Weder noch«, log ich und wechselte prompt das Thema. »Gibt es eigentlich einen besonderen Grund dafür, dass das Wohnzimmer in Pappkartons ertrinkt?«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Mom lachte und schüttete ein paar Gewürze in den Eintopf. »Marcus hat die Sachen von einer Londoner Universität zugeschickt bekommen. Es sind Leihgaben. Mit seiner letzten Veröffentlichung hat er die Möglichkeit bekommen, ein paar Papiere und Gegenstände zu sichten.«
Mein Stiefvater, Marcus, war Professor für Okkultes an der Universität hier in Portland und sogar über die Grenzen von Maine hinaus für seine Arbeit bekannt. Er beschäftigte sich vor allem mit der Erforschung von Legenden zu Wesenheiten, die unter dem Begriff der Shadow People zusammengefasst wurden.
»Gut, aber was hat das Zeug dann in eurem Wohnzimmer zu suchen?« Ich hob eine Augenbraue.
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Das musst du Marcus fragen. Sie können hier wohl besser arbeiten.«
In meiner Brust flammte ein Stich auf. Ohne, dass ich es hätte verhindern können, presste ich die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte. »Sie?«
»Jason ist da.«
Sofort wandte ich mich ihr zu. Mom hatte alle Bewegung eingestellt und sah seitlich zu mir herauf.
»Klasse Zeitpunkt, um das zu enthüllen.« Ich spürte ein wütendes Kribbeln auf meiner Kopfhaut. »Als ich den Tisch gedeckt habe, ist dir der fehlende Teller für ihn nicht aufgefallen?«, fragte ich sie spitz.
»Du weißt, dass er öfter da ist«, rügte sie mich.
»Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich nach Hause gefahren.« Ich stieß mich vom Küchenschrank ab und ging ein paar Schritte in den Raum hinein, ohne wirklich ein Ziel zu verfolgen.
»Du weißt, ich respektiere deine Wünsche. Aber du weißt auch, wie ich darüber denke. Wenn du Marcus etwas sagen würdest, dann …«
»Das möchte ich aber nicht«, unterbrach ich sie harsch.
»Wenn du es mich erzählen lassen würdest …« Den Vorschlag hatte sie schon oft gemacht und entsprechend demütig brachte sie ihn auch dieses Mal vor.
Mir fiel es schwer, nicht völlig die Fassung zu verlieren. »Auch das möchte ich nicht. Es ist meine Sache. Meine Entscheidung.«
»Wüsste er, was damals wirklich zwischen euch passiert ist, dann würde er sicher nicht mehr mit ihm arbeiten. Er würde ihn sogar hochkant rauswerfen«, wies sie mich auf das Offensichtliche hin. »Meinst du, es ist leicht für mich, ihn ständig hier zu haben?«
Marcus hatten wir erzählt, die Trennung von Jason und mir wäre einvernehmlich und ruhig verlaufen. Dass wir uns einfach nicht mehr glücklich machten, uns nicht mehr liebten, uns aber noch immer viel aneinander lag.
Was für eine riesige Lüge. Aber ich hatte es nicht übers Herz gebracht, Jason alles zu nehmen.
»Dass du mich schützen willst, verstehe ich, Mom«, gab ich mich zunächst einsichtig. »Aber ich muss vor ihm nicht geschützt werden und ich möchte auch nicht, dass Jason rausgeworfen wird.« Frustriert warf ich die Hände in die Luft und wirbelte zu ihr herum.
Mom hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt und schürzte die Lippen. »Und was sollen wir dann anderes machen?«
»Ich bin doch kein Teenager mehr. Es ist egal, was zwischen uns vorgefallen ist. Deshalb sollte er nicht seinen Job verlieren. Und was meinst du, wie es mit Marcus’ Reputation aussehen würde, wenn er Jason wegen Privatangelegenheiten loswerden würde.«
»Ich weiß, nur …«
»Mom«, unterbrach ich sie bestimmt.
Kopfschüttelnd hob sie die Hände. »Schon gut. Ich halte den Mund.« Sie tippte auf den Herd und wischte sich über ihre Schürze, bevor sie sie über den Kopf auszog. »Das Essen ist fertig. Ich gehe die beiden holen.«
»Mommy!«, rief Nathan gerade, als sie das Kleidungsstück über einen der Stühle hängen wollte, und fuchtelte gleich mit beiden Händen in der Luft herum.
Mom warf mir einen kurzen Blick zu, seufzte und wandte sich dann meinem Bruder zu. »Mommy ist sofort bei dir, mein kleiner Komet. Ich muss nur eben Jason und deinem Vater Bescheid geben.«
Genervt stöhnte ich augenrollend auf. »Schon gut. Ich hole sie.«
Bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte ich schon auf dem Absatz kehrtgemacht und lief zielgerichtet durchs Wohnzimmer auf den Flur zu.
Aber plötzlich bremste mich etwas, während ich mich zwischen den Kartonsäulen hindurchschlängelte. Unschlüssig runzelte ich die Stirn und versuchte, dieses Gefühl einzuordnen, das mich da gerade überkam. Es war wie ein Sog.
Auf dem Kaffeetisch vor dem Kamin stand ein halb geöffnetes Paket inmitten von heillosem Durcheinander. Wie von selbst richtete sich mein Körper dazu aus und ich konnte nicht anders, als den Raum zu durchqueren. Ich musste hineinsehen.
Die braune Pappe und das Paketband standen im Kontrast zu dem verschnörkelten Truhendeckel, der dazwischen zum Vorschein kam.
Das Kupfer war hier und da angelaufen und zum Teil grün verfärbt. Ein blauer Stoff war daran entlang gearbeitet, matt und teilweise ausgeblichen. Die Schnörkel wuchsen zu ganzen Blumen und Blättern heran. Erst auf den zweiten Blick erkannte man all die eingearbeiteten Szenen. Immer unter dem Schutz eines anderen Blattes waren sechs Figuren zu sehen, die beisammenstanden und wie im Standbild eingefroren waren. Manchmal hatten sie etwas in der Hand oder dunkle Flecken hinter sich. In den unteren Szenen wurden sie immer weniger, bis es nur noch eine Figur war, die dort stand.
Es war faszinierend, wie detailreich hier gearbeitet worden war.
Das Bild von dem schwarzen Auge in der Bibliothek leuchtete in meinem Geiste auf. Warum es gerade jetzt aufkam, konnte ich mir nicht erklären. Es war nur eine ungünstige Schattenspiegelung, sagte ich mir ein ums andere Mal. Aber die Erinnerung schlich sich mir dennoch immer wieder in den Kopf.
Wie von selbst begann ich damit, mit den Zähnen über die Innenseite meiner Wange zu fahren.
»Nicht anfassen!« Der Donner in der Stimme, die mich von hinten erfasste, ließ mich heftig zusammenzucken und zog mich aus einer Art Trance heraus, der ich mir nicht bewusst war.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Hand nach der Truhe ausgestreckt hatte, mich nur noch wenige Zentimeter davon entfernten. Die Ränder meines Sichtfeldes waren verschwommen.
Langsam zog ich die Hand zurück und blinzelte mehrmals. »Ich wollte es gar nicht anfassen«, sagte ich atemlos, obwohl ich gar nicht genau wusste, was ich gerade hatte tun wollen. Ich erinnerte mich nicht einmal daran, wie ich die Hand bewegt hatte.
Dann wurde mir klar, wer mich so harsch daran gehindert hatte, das Teil anzufassen, und die Verwirrung war wie weggewischt.
»Klar, sieht auch so aus.« Die Ader auf Jasons Stirn, der jetzt neben mir stand, trat deutlich hervor. Er verschränkte die Arme vor der Brust und das dunkle Braun seiner kleinen Augen funkelte mich überheblich an.
Er trug die brünetten Locken jetzt länger. Eine Strähne ringelte sich auf der Stirn. Alles an ihm war wie eine Beleidigung für mich. Selbst den Anblick seiner Augenbrauen, die ich früher einmal so lustig gefunden hatte, weil sie sich so seltsam kräuselten, konnte ich kaum ertragen.
Was ich ihm in diesem Moment am liebsten alles an den Kopf geworfen hätte … In mir pochte das Bedürfnis, ihm auf die Nase zu schlagen. Wie konnte er es wagen, so mit mir zu reden?
Das Minimum, das er mir schuldete, war eine Entschuldigung. Aber selbst die hatte ich bis heute nicht von ihm gehört.
Ich schnaubte. »Wie auch immer. Es gibt Essen.«
Als ich an diesem Abend endlich den Schlüssel in der Wohnungstür drehte, konnte ich einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.
Nach dem Essen hatte Marcus die großartige Idee, Jason auch noch zum Spieleabend einzuladen. Ich hatte also eine ganze Menge Jason und recht wenig Spaß hinter mir.
Mit dem Fuß schloss ich die Tür, nachdem ich meine Wohnung betreten hatte. Ein wenig umständlich beugte ich mich über die Kommode und ließ die Briefe, die ich zwischen den Zähnen hielt, darauf fallen.
Zuerst manövrierte ich mich in der Dunkelheit durch die Küche und verstaute die Reste, die Mom mir aufgedrückt hatte, im Kühlschrank. Die Tasche mit den ausgeliehenen Büchern stellte ich im Durchgang zur Wohnungstür neben der Kommode auf den Boden. Jetzt, da meine Hände frei waren, schaltete ich das Licht ein. Ich zog die Jacke aus und warf einen Blick auf die Briefe, die ich danach hochnahm, um sie genauer durchzusehen.
Rechnung, Rechnung, Rechnung …
Langsam begab ich mich vom Eingangsbereich weiter ins Wohnzimmer und machte die Lichterkette an. Meine Möbel waren in gedeckten Farben gehalten. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich beim Einkauf von Dekoartikeln gerne mal über die Stränge schlug. Alles, was auch nur halbwegs als Abstellfläche genutzt werden konnte, beherbergte Pflanzentöpfe, Kerzen, dekorative Figuren oder Bilderrahmen. Auch die Sitzmöbel waren vor mir nicht sicher. Ich hatte sie wild mit Kissen und Decken übersät.
Ein Rascheln ließ mich innehalten und aufsehen. Ich starrte die hellen, hauchdünnen Gardinen an, die das große Fenster bedeckten. Mich überkam derselbe seltsame Sog, den ich schon zuvor bei der Truhe verspürt hatte. Zögernd blickte ich mich im Wohnzimmer um und blieb an dem Türbogen hängen, der in mein Schlafzimmer führte.
Dort war die Dunkelheit so vollkommen, undurchdringbar und dennoch bildete ich mir ein, dass ich Bewegungen in ihr erkennen konnte. Trotz der alles einnehmenden Düsternis konnte ich Wellen schlagen sehen, die sich darin abzeichneten. Wieso nur war es so dunkel? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass ich die Jalousie geschlossen hatte. Scheinbar war es noch in der Hektik geschehen, bevor ich zu meinen Eltern gefahren war, um Nathan abzuholen.
»Ava.«
Gänsehaut kroch über meinen Körper, während mir das Herz in die Hose rutschte. Quälend langsam drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Betete mit rasenden Gedanken dafür, dass ich es mir nur eingebildet hatte.
Ich wollte nicht sehen, was das Gegenteil davon bedeutete. In dem kleinen Durchgang zwischen Wohnzimmer und Wohnungstür stand ein Mann.
Jeder Muskel in mir erstarrte. Ich konnte keinen Finger rühren. Meine Brust hob und senkte sich schnell. Ich starrte in das Gesicht vor mir, während mich die unterschiedlichsten Gefühle überschwemmten. Sie schwappten ineinander über, bis nur noch eines übrig blieb: Wut.
»Dad?«, fragte ich ungläubig.
Zwar setzte ich alles daran, dass mein Puls sich beruhigte, aber es funktionierte nicht. Ich presste die Kiefer aufeinander, um nicht direkt auf ihn loszugehen.
Ein Rauschen machte es sich in meinen Ohren bequem. »Du bist hier nicht wirklich eingebrochen, oder?«
Es war fast fünfzehn Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mit einer Geschichte brachte er mich damals ins Bett und ich erinnerte mich noch daran, dass ich verwundert war, weil er mit seinen Lippen länger als sonst auf meinem Scheitel verharrte. Wie von der Tarantel gestochen war er dann aus dem Kinderzimmer gestürmt. Am nächsten Tag war er verschwunden und hatte nichts weiter hinterlassen als die unterschriebenen Scheidungspapiere.
Das Licht aus dem Wohnzimmer warf einen sanften Schein auf ihn. Er war alt geworden. Sein dunkelblondes Haar schütter, mit weißen Strähnen durchzogen. Tiefe Ringe umgaben die wässrig grünen Augen, die in zuckenden Bewegungen hin und her hüpften. Ein unordentlicher Bart zierte seine eingefallenen Wangen und die Kleidung, die er trug, saß locker. An manchen Stellen war sie schmutzig oder sogar beschädigt.
»Tut mir leid«, sagte er, als wäre er nur leicht gegen mich gestoßen, und hätte nicht gerade ein Verbrechen begangen. Mit flinken Schritten ging er rüber zu meiner Stehlampe im Wohnzimmer, die ich gerne nutzte, um in dem Sessel darunter zu lesen. Er schaltete sie ein und dimmte sie direkt.
»Ich wollte kein Aufsehen erregen. Wir müssen dringend reden.« Das Raumlicht ging aus, als er den Schalter dafür betätigte. Wir befanden uns jetzt nur noch im schummrigen Schein der Leselampe. Wieso löschte er dafür das Licht? Hätte mich seine Aussage nicht so aufgeregt, wäre das geradezu gruselig gewesen. Mich überkam ein ungutes Gefühl.
Kein Aufsehen? »Was zum … Was tust du da?«, presste ich hervor, immer noch bemüht, ihn nicht anzufallen.
»Bitte.« Mit einer Hand deutete er auf den Sessel, aber ich bewegte mich kein Stück.
»Wie höflich, dass du mir meinen eigenen Sessel anbietest.«
Er rieb sich über den Arm und machte einen unschlüssigen Schritt auf mich zu. Als ich entschieden zurückwich, hob er beschwichtigend die Hände. »Ich muss wirklich dringend mit dir reden.«
»Ich sollte die Polizei rufen.«
»Bitte«, wiederholte er. Diesmal flehend.
Ich konnte ihn nicht einmal mehr ansehen. Stattdessen musterte ich nun die weiße Tapete. Hinter meinen Augen breitete sich ein Druck aus, aber ich hielt die Tränen verbissen zurück. Meine Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie aus Stein und wurden von Sekunde zu Sekunde kälter. Als er von uns fortgegangen war, Mom und mich allein zurückgelassen hatte, platzierte sein Fehlen ein Loch in meiner Brust. Ein Sehnen nach unserer gemeinsamen Zeit. Es hatte immer etwas gefehlt.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass er zu mir zurückkam? Wie oft hatte ich mir eingeredet, es gäbe einen anderen Grund für sein Verschwinden, als dass er es selbst so gewollt hatte? Wie oft hatte ich geträumt, ein Wunder würde mir meinen Daddy zurückbringen?
Und hier stand er nun. Dieses Mal hatte ich ihn mir jedoch nicht hergewünscht.
Das konnte nicht real sein.
Welchem Wunder ich es auch immer zu verdanken hatte, ich wollte es nicht.
»Schatz, ich …«
»Nenn mich nicht so!«, fauchte ich und kniff die Augen zusammen.
Er erschrak regelrecht beim Anblick des Feuers, das er in meinem Gesicht zu sehen bekommen musste. Sein Adamsapfel hüpfte, bevor er ein »Okay« murmelte. »Ich weiß, du bist aufgebracht …«
»Ich bin nicht aufgebracht. Ich bin wütend.«
»Lass mich ausreden.« Seine Stimme wurde fest und er schob die Augenbrauen zusammen, bis sich tiefe Falten an seiner Nasenwurzel bildeten.
»Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten. Zumindest nichts, was mich interessieren würde.« Ich spürte, wie sich meine Nasenflügel aufblähten. »Was denkst du dir eigentlich? Du bist verschwunden! Und ich hätte nichts dagegen, wenn du es geblieben wärst.« Ich wollte in Richtung der Eingangstür stampfen, um ihn auf der Stelle rauszuwerfen. Aber er umrundete mich und warf sich davor.
»Wirklich?«, fragte ich und hätte beinahe laut aufgelacht.
»Ava.« Mein Name, mit seiner Stimme ausgesprochen, brachte mich zum Stolpern. Kindheitserinnerungen sprudelten auf, aber wurden direkt von Enttäuschungen eingeholt. Mir wurde schwindelig und mein Magen war kurz davor zu rebellieren.
»Ich muss dich warnen und ich habe nicht viel Zeit.«
»Was redest du da?« Genervt kniff ich die Augen zusammen und rieb mir über die Stirn.
»Hast du meine Briefe bekommen?«
Ich musterte ihn eingehend. Es war, als hätte er mir einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet. Ist das dein Ernst? »Welche Briefe?«
Seine Augen wurden groß. Er wendete den Blick ab und seufzte verzweifelt. Kurz holte er tief Luft, bevor er mich wieder ansah. »Jedes Jahr zu deinem Geburtstag habe ich dir einen Brief geschrieben«, sagte er.
Ich rollte mit den Augen. »So einen Bockmist habe ich selten gehört«, zischte ich. Aber als er nichts entgegnete, außer mich völlig verloren anzusehen, wurde mir klar, dass das tatsächlich sein Ernst war. Seufzend erklärte ich also: »So einen Brief habe ich nie bekommen.«
»Dann muss deine Mom …«
»Zieh Mom da nicht mit rein!«, unterbrach ich ihn augenblicklich.
Er ließ hörbar Atem entweichen. »Hör zu.« Auf Brusthöhe legte er seine Fingerspitzen aneinander. »Ich habe die Briefe nicht mit der Post verschickt, sondern selbst bei euch eingeworfen.«
Mir war klar, was er damit sagen wollte. Wenn er sie eigenhändig eingeworfen hatte, waren sie nicht frankiert gewesen. Sehr wahrscheinlich stand auch kein Absender darauf, aber Mom kannte seine Handschrift. Gerade verfluchte ich den Umstand, dass das Leeren unseres Briefkastens nie zu meinen Aufgaben im Haushalt gehört hatte.
»Es ist wichtig, dass du diese Briefe liest. Alles, was du wissen musst, steht da drin.«
Ich runzelte die Stirn. »Kannst du mir das nicht jetzt erklären, wenn es so wichtig ist?«
»Nein.« Er verzog das Gesicht. »Verstehst du nicht? Die Wände haben Ohren.« Den letzten Teil flüsterte er und weitete dabei bedeutungsvoll die Augen.
Sein Verhalten ließ mich stutzen und ich spürte, wie in mir die Perspektive wechselte. Die Wärme und das Lächeln, das ihn früher ausgemacht hatten, fehlten gänzlich. Dieser Mann war mir völlig fremd.
»Ich habe keine Zeit. Es fällt schon bald auf, dass ich verschwunden bin und dann werden sie mich suchen kommen«, sagte er nun eine Spur eindringlicher.
»Was meinst du?« Die Worte fühlten sich schwer auf der Zunge an. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer sucht dich?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, wiederholte er. »Versprich mir, dass du deine Mom nach den Briefen fragen wirst.«
Nun hatte er die Handflächen aneinandergelegt und drückte die Fingerspitzen gegen sein Kinn. Seine Augen funkelten erwartungsvoll. »Dein Leben hängt davon ab.«
Mir kamen Gedanken an mögliche psychische Zustände. Vielleicht suchten ihn die Leute deshalb. War er von einem Ort fortgelaufen, an dem ihm geholfen werden sollte? Einer Einrichtung für psychisch Kranke vielleicht? »Dad«, sagte ich nun in einem weichen Ton. »Geht es dir gut? Vielleicht sollten wir einen Krankenwagen rufen?«
Sein Blick flackerte und er atmete stoßend aus. »Mir geht es gut.«
»Vielleicht wollen dir die Leute, die dich suchen, nur helfen.«
»Nein, das wollen sie nicht. Solche Leute sind das nicht.« Das Wort spuckte er mir beinahe entgegen und lachte dabei freudlos. »Bitte, such nach den Briefen.«
»Okay«, versprach ich. Mehr, um ihn zu beruhigen, als dass ich wirklich darüber nachdachte.
Er schloss die Augen und lächelte dann. »Gut.«
Als hätte es irgendein Zeichen gegeben, das ich nicht mitbekommen hatte, rauschte er an mir vorbei auf die Wohnungstür zu. »Ich muss jetzt gehen«, rief er gehetzt und schwang sich einen ramponierten, schwer aussehenden Rucksack auf den Rücken.
Es passierte so schnell und unerwartet, dass ich gar nicht darauf reagieren konnte. Er griff schon nach dem Knauf, hielt dann aber inne. Das schummrige Licht der Stehlampe unterstrich den düsteren Ausdruck in seinem Gesicht. »Halt dich von den Schatten fern«, sagte er mit einem dunklen Unterton.
»Schatten?«, wiederholte ich. Zuerst kam es mir wie ein Sprichwort vor, aber dann ließ es mich stutzen. »Meinst du die Schatten, die Marcus erforscht?«
Er nutzte den Begriff oft als Synonym für seine Shadow People.
»Marcus?« Dad stockte.
»Ja, mein Stiefvater.«
»Ich weiß, wer das ist«, unterbrach er mich barsch und hob abwehrend eine Hand. »Er erforscht sie? Bist du dir sicher?«
Ich runzelte die Stirn. »Er ist dafür bekannt. Schattenmenschen sind sein Spezialgebiet.«
Mein Vater musterte mich lange und wirkte dabei so, als würde er im Kopf eine schwere Matheaufgabe lösen. Dann fiel sein Blick plötzlich auf die Tasche am Boden, in der die Bücher lagen. »Freut mich, dass du noch immer so viel liest.«
Ich folgte seinem Blick, aber bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte er schon die Tür hinter sich zugeworfen. Ohne Zögern lief ich darauf zu und ließ das Schloss klicken.