NEVE - LESEPROBE


»Sie trinken Ihren Kaffee jetzt oder baden darin«, drohe ich dem älteren Mann vor mir.

 

August ist eine ausgesprochene Nervensäge. Er hat Kenna schon dazu gebracht, ihm einen neuen Milchkaffee zu machen, weil der andere »zu schnell kalt geworden ist«. Wenn man eine Stunde lang daran trinkt, ist das auch kein Wunder. Jetzt stört ihn ein Haar.

 

»Ich muss doch sehr bitten«, fängt er entrüstet an.

 

»Nein, August. Ich muss doch sehr bitten.« Mir wird das zu bunt. Ohne zu blinzeln, halte ich seinem Blick stand und stelle dann zufrieden fest, dass er zu schrumpfen scheint. Erst als er die Tasse an die Lippen setzt, rolle ich mit den Augen und wende mich ab.

 

Mit flinken Schritten erreiche ich den Tresen und Mom ist mir dabei dicht auf den Fersen. Zum ersten Mal, seit sie durch den Eingang gekommen ist, gibt sie keinen Mucks von sich. Diesen Augenblick nutze ich, um kurz durchzuatmen. Das ganze Gequatsche über Blind Dates hat mein Hirn mürbe gemacht.

 

Jetzt habe ich die Möglichkeit, wieder einen Blick auf das Mädchen zu werfen, das schon den zweiten meiner Tränke bestellt hat. In einem adretten Hosenanzug sitzt sie mir gegenüber an der Backsteinwand, direkt neben der Tafel, auf der die Getränke und Speisen zu finden sind, die wir hier anbieten. Kunstvoll mit Kreide gestaltet. Einer von Kennas Einfällen, um das Café »instagramworthy« zu gestalten. Ein Weiterer ist, die Getränke mit essbaren Blüten zu verzieren, die ich jede Woche bei Sam abhole.

 

Etwas zupft an meinem Haar und lässt mich kurz innehalten. Ein paar der Blüten des Blauregens, der die Cafédecke vollkommen eingenommen hat, haben sich in den Strähnen verfangen. Doch auch diese Blütenpracht kann den Kaffeeduft nicht übertönen. Schnell befreie ich meine Locken, bevor ich mich hinter den Tresen stelle, wo Kenna gerade die nächste Person in der Schlange bedient. 

 

»Wir müssen wieder stutzen«, sage ich, ohne sie anzusehen, und greife nach der Milchkanne. Sie schnaubt belustigt und geht nicht weiter darauf ein.

 

Währenddessen versucht Mom, meine Aufmerksamkeit mit Blicken zu erhaschen. Aber ich schäume demonstrativ die Hafermilch auf und sie schüttelt kaum merklich den Kopf.

 

Kenna stellt dem Gast ihre Nachfrage etwas lauter, um das Zischen zu übertönen und tippt die Bestellung auf dem Bildschirm ein. »Einen kleinen Moment dauert’s. Du kannst dich da drüben hinstellen«, erklärt sie dann, nachdem sie das Geld entgegengenommen hat. Mit einer grazilen Handbewegung bedeutet sie ihm, an der Seite Platz zu nehmen.

 

Die Bewegungen der Puerto-Ricanerin sind immer fließend und anmutig. Kenna erzeugt in mir dasselbe Gefühl, das ich empfinde, wenn ich einen Wasserstrom beobachte: Ruhe und Frieden. 

 

»Was hat ihn dieses Mal gestört?«, fragt sie mich mit einem schnellen Seitenblick zu dem Herrn, der missmutig sein Getränk hinunterwürgt. Mit der Zange packt sie einen Muffin in eine Papiertüte. Auf ihrem Gesicht liegt dabei ein pinker Lichtschein von dem Neonschild, dessen Buchstaben die Worte Witch in the House bilden. Es hängt an der Wand hinter dem Tresen. Direkt neben dem Buntglasfenster, das leichte Schemen des Lagerraums dahinter erkennen lässt. 

 

Mit aller Macht unterdrücke ich ein weiteres Augenrollen. »Er hat Haarausfall«, sage ich nüchtern und stemme eine Hand in die Seite. Mit der anderen betätige ich die Kaffeemaschine.

 

»Ah«, macht Kenna betont unbeeindruckt. Sie bearbeitet die Bestellung, als wäre nichts weiter, doch ich weiß es besser. Ohne mein Einmischen hätte sie ihm diesen dritten Milchkaffee gebracht. Und auch einen vierten.

 

Natürlich würde ich ihr das niemals übelnehmen. Sie ist nicht grundlos Stellvertretung hier im Little Table.

 

Ich halte eine Hand über die Schulter auf. »Karamellsirup, bitte.«

 

Ein Knarzen in meinem Rücken verrät mir, dass die Wurzel zum Leben erwacht. Castor hat sie einmal von einer Fabrikatorin erstellen und mit dem Laden verschmelzen lassen. Eine gigantische Lianenwurzel schlängelt sich jetzt in die Ecke hinter dem Tresen. Dort wo sie verwurzelt ist, sind feine Risse in dem antiken Holzboden.

 

Mit einem Knacken und leisem Knirschen bewegt sie sich auf mich zu und hebt eine kleine Flasche in meine Hand.

 

»Danke, du Schatz.«

 

Die raue Rinde kratzt leicht an meiner Wange entlang, bevor sich die Lagerwurzel zurückzieht. Nur am Rande registriere ich, dass in der Warteschlange mehrere Smartphones gezückt worden sind, um diese Interaktion für die Ewigkeit zu konservieren. Unsere Wurzel ist eine Berühmtheit in den Sozialen Medien: #rootlove #rootofmoonsightave #rootoftheproblem.

 

»Neve?«, findet Mom schließlich ihre Stimme wieder. Schade. »Ich glaube nicht, dass du so mit deinen Kunden reden solltest.«

 

Ich sehe sie ohne jede Emotion an. »Ich habe ja auch mit der Wurzel gesprochen.«

 

Für einen Augenblick stelle ich mir vor, wie ihr Dampf aus den Ohren schießt und muss die Lippen aufeinanderpressen, um nicht loszuprusten. Sie schnaubt. »Ich meine August.«

 

»So?«, frage ich mit einem sarkastischen Unterton. Ich hole einmal tief Luft und schließe kurz die Augen. »Mom? Welche Haarfarbe habe ich?«

 

»Rot?«

 

»Und Kenna?«

 

»Schwarz?«

 

»Genau«, bestätige ich und spritze ein Waffelmuster aus Karamell auf die Milchhaube des Lattes vor mir. »Und das Haar, das er im Getränk gefunden hat, war weiß. Wir drei sind die Einzigen, die in der Nähe seines Kaffees waren. Und wer von uns hat weißes Haar?«

 

Ihr Mund öffnet sich, nur um direkt wieder zuzuklappen. Mom möchte sich nicht einmischen. Doch ihre mütterlichen Pflichten nötigen sie dazu, weiterzusprechen. Auch wenn ich schon sechsundzwanzig bin, glaubt sie, sie müsste mich noch erziehen. »Ich meine ja nur: Der Kunde ist König.«

 

Kaum zu glauben, dass sie mir jetzt mit dieser Plattitüde kommen muss. »Das ist mir neu.«

 

»Neve ...«

 

»Hey, das ist mein Café«, erinnere ich sie. »Nichts für ungut, aber ich weiß, wie ich es zu führen habe.«

 

»Aber was ist, wenn deine Kunden dir das übel nehmen? Was ist, wenn August nicht mehr wiederkommt?«

 

»Dann werde ich erstmal eine ausschweifende Party feiern«, schwärme ich und stelle das Getränk auf ein Tablett. »Ich lade die ganze Stadt ein und wir tanzen dann auf dem Tresen.«

 

Sie legt den Kopf schräg und kneift die Lippen zusammen. »Neve.«

 

»Was?«, zische ich. »Was kann ich dafür, dass das Haarwuchsmittel des alten Trottels nicht funktioniert?«

 

»Ich muss deiner Mutter recht geben«, meldet sich plötzlich jemand aus der Schlange am Tresen zu Wort.

 

»Keinen interessiert, was du denkst, Jerry.« Ich stelle mir vor, dass ich mit meinem Blick Blitze auf ihn abschieße.

 

»Ich heiße Liam«, korrigiert er mich.

 

»Meine Rede«, sage ich leichthin und gehe um den Tresen herum.

 

»Du wirst Castor jeden Tag ähnlicher«, ruft er mir hinterher.

 

»Auf dem Café liegt wohl ein Fluch«, gebe ich mit einem Schulterzucken zurück. Ich gehe auf einen der runden Tische am Fenster zu. Dort hält eine Blondine ihr Mobiltelefon bereits auf Anschlag, um die Ästhetik des Mason Jars auf meinem Tablett abzulichten. Passend zu dem blauen Vergissmeinnicht, der vereinzelt im Milchschaum steckt, ist der Henkel mit einer blassblauen Schleife verziert.

 

Während ich auch die anderen Tische bediene, fällt mein Blick immer wieder auf das Mädchen neben der Tafel. Sie hat gleich ein Bewerbungsgespräch, wie sie es mir bei der Bestellung aufgeregt erzählt hat. Zuerst hat sie Trank für Mut bestellt und dann einen für Selbstbewusstsein. Es ist nur Tee, der vor ihr auf dem Tisch steht. Eine Täuschung, nichts weiter. Aber es verschleiert meine wahre Fähigkeit. Kunden erhalten genau den Effekt, den sie bestellen, nur eben nicht auf die Weise, die sie erwarten.

 

Ich lasse die mentalen Finger ausfahren, streiche über ihre Venen und tauche dann in den Blutstrom hinab. Davon merkt sie jedoch nichts. Sie denkt, die Veränderung ihrer Emotion rührt von dem vermeintlichen Trank in ihrer Teetasse her. Für die anderen Gäste im Raum stelle ich nur etwas auf einem Tisch ab, aber insgeheim halte ich jemandes Herzschlag in den Händen. Ich spüre ihn in der Brust, als wäre es mein Eigener und verändere ihn so, dass der Mut in ihren Adern um das Selbstbewusstsein erweitert wird, das sie sich gewünscht hat. Doch einen kleinen Funken Nervosität lasse ich ihr. Damit die Aufregung, der Zauber des Augenblicks, nicht ganz verloren geht. Ihr Lächeln wird breiter, reicht von einem zum anderen Ohr, und sie gibt sogar ein lautes Glucksen von sich, als sie aufsteht und ihren Anzug glattstreicht. Sie greift nach ihrer Tasche und ich ziehe mich zurück.

 

Viel Erfolg, wünsche ich ihr stumm und beobachte sie beim Gehen.

 

»... und auch ausgesprochen erfolgreich«, registriere ich Moms Stimme, während ich eine Tasse vom Tisch abräume. Die ganze Zeit ist sie mir nachgelaufen.

 

»Was?«, frage ich jetzt nach und spüre das schlechte Gewissen. Mom meint es nur gut.

 

»Simon.«

 

»Mom, hast du einen Schlaganfall?« Den Kommentar konnte ich mir nicht verkneifen.

 

Sie lässt die Schultern hängen und stöhnt müde. Dann fängt sie an, zu erklären. »Simon. Der Sohn meiner Freundin. Er ist Tierarzt un–«

 

»Ich treffe Simon nicht«, unterbreche ich sie sofort.

 

»Wieso nicht?«, ruft sie und wirft hilflos die Hände in die Luft.

 

»Ich muss jetzt arbeiten«, erkläre ich und schleppe dann das volle Tablett zurück zum Tresen.

 

»Du sollst ihn auch nicht jetzt treffen, sondern Freitag.« In ihrer Stimme kann ich die freche Belustigung hören, die ich selbst gern verwende.

 

»Hör auf zu schmunzeln. So geistreich war das nicht«, sage ich, ohne mich zu ihr umzudrehen. 

 

Am Tresen stelle ich weitere benutzte Tassen auf das Tablett, um es gleich ins Lager zu bringen, wo sich der Geschirrspüler befindet. Ein Industrieteil, mein ganzer Stolz. Es hat ewig gedauert, das Geld dafür aufzubringen. Ansonsten habe ich am Inventar des Little Table kaum etwas verändert, seit Castor es mir übergeben hat.

 

Mom wartet immer noch auf eine Antwort und ich halte seufzend inne. »Leider will ich diesen Simon einfach nicht treffen«, erkläre ich und heuchele Bedauern.

 

»Lern ihn doch erstmal kennen, bevor du ihn ablehnst.« Mom legt die Stirn in Falten und bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick.

 

»Danke, ich verzichte.« Zur Unterstützung verstecke ich nicht einmal, wie gezwungen das Lächeln auf meinem Gesicht ist.

 

»Wie willst du mit dieser Einstellung einen netten Mann finden?«

 

»Gar nicht.«

 

»So funktioniert das doch nicht. Du brauchst einen Mann.«

 

Wow. Mein Mom-Bingo ist für heute komplett. Aber meine Mundwinkel kräuseln sich diabolisch, als ich die wohl gewählten Worte zur Abschreckung ausspreche: »Nein, brauche ich nicht. Da ist ein Gegenstand in meinem Nachtschrank, mit dem geht das auch einwandfrei.«

 

Mom runzelt verwirrt die Stirn, aber als sie endlich versteht, reißt sie schockiert Mund und Augen auf und legt eine Hand auf die Brust. Besonders dramatisch. Als hätte ich sie soeben mit einem Pfeil abgeschossen.

 

Liam, der jetzt am Anfang der Schlange steht, lacht laut auf.

 

»Klappe, Jerry«, fauche ich ihn an, schnappe das Tablett und mache mich auf den Weg ins Lager.

 

Hinter dem Tresen gehe ich durch die Tür, die in einen dunklen Flur führt. Hier befinden sich der Treppenaufgang zu meiner Wohnung, die Kundentoilette und eine Schwingtür zum Lager. Kaum betrete ich den großen Raum voller hölzerner Regale, wird Moms Nörgeln noch unerträglicher.

 

»Ich habe seiner Mutter schon zugesa–«

 

»Schluss«, unterbreche ich sie harsch und werde sogar etwas lauter. »Hast du vergessen, weshalb ich lieber allein bin? Hast du vergessen, wieso ich nicht heiraten und keine Familie haben will? Es ist gefährlich in meiner Nähe. Dass du und Dad da mit drinhängt, ist mir schon genug Risiko.«

 

»Du musst es deinem Partner doch nicht sagen.«

 

Es ist, als hätte sie mir gerade mit voller Wucht ein Brett vor die Stirn gehauen. Kurz bin ich absolut fassungslos. Dann ramme ich das Tablett auf die Theke neben der Spülmaschine. »Klar«, krächze ich. »Wenn es danach ginge, hätte ich damals auch Aramis heiraten können.«

 

»Stimmt«, meint sie nüchtern. »Hättest du das mal getan.«

 

Ich bin ein Ballon, randvoll mit Wasserstoff. Und Mom ist das Streichholz, das mir nicht zu nah kommen sollte. Es kostet mich alle Willenskraft, die Lippen aufeinanderzupressen, und ich stürme so schnell an ihr vorbei, dass die Papiere an der Pinnwand neben der Tür raschelnd hochfliegen.

 

Doch Mom hört nicht auf. »Das ist deine Lösung? Allein bleiben? Warum willst du freiwillig für immer unglücklich sein?« 

 

Kaum setze ich einen Fuß zurück ins Café, erstarre ich. In der Schlange steht ein neuer Gast. Ein Gast, der mir sehr bekannt vorkommt. 

 

Ein Mann in seinen frühen Dreißigern mit adretter Kleidung. Das weiße Hemd ist so weit aufgeknöpft, dass man einen Blick auf seine glatte Brust erhaschen kann. Er überragt die anderen Wartenden um eine ganze Kopflänge, steht vollkommen aufrecht, obwohl er gerade etwas auf dem Bildschirm einer Spiegelreflexkamera checkt, die um seinen Hals hängt. Sonst tut er nichts und trotzdem gehört ihm die gesamte Energie des Raumes. Wie ein Magnet zieht er immer wieder die Blicke der Leute an und ich bin überzeugt, dass sie dasselbe vertraute Gefühl in der Brust spüren wie ich.

 

Es kommt mir wie in Zeitlupe vor, als er den Kopf hebt. 

 

Unsere Blicke treffen sich. 

 

»Scheiße«, hauche ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und mache sofort auf den Absätzen kehrt, renne zurück ins Lager.

 

»Genau. Das ist doch scheiße, Neve«, höre ich Mom sagen. Der Moment war so kurz und unscheinbar, dass sie es gar nicht mitbekommen hat.

 

Die Möglichkeit, mich im Schrank zu verstecken, kreuzt meine Gedanken. Oder ich stürme zur Hintertür hinaus.

 

»Hey. Das ist nur für Mitarbeiter. Da dürfen Sie nicht rein«, höre ich Mom entrüstet ausrufen und ihre Stimme klingt ein wenig schief.

 

Zu spät. Sofort wirbele ich herum und da steht er. Die Tür hinter ihm schwingt noch immer vor und zurück, als ich bereits an seinen dunklen Augen klebe. Sie scheinen ein Geheimnis bereitzuhalten und gleichzeitig eine Umarmung. Meine Kehle wird trocken. Das ist schlecht.

 

Ich zwinge mich dazu, eine entspanntere Körperhaltung einzunehmen, lehne mich locker mit der Hüfte gegen eines der Regale. »Sie sind leider am Tresen vorbeigelaufen«, sage ich nach einem Räuspern und versuche mich an einem sarkastischen Lächeln.

 

Er blinzelt, als hätte ich ihn gerade aus einem Traum gerissen. »Was?«

 

»Wenn Sie etwas bestellen möchten, müssen Sie das am Tresen tun«, erläutere ich näher und runzele die Stirn, damit es überzeugender wirkt. Mein Fluchtinstinkt wird immer stärker.

 

Hinter ihm betritt Mom vorsichtig den Raum und sieht mich fragend an.

 

Der Mann schüttelt den Kopf. »Nein.« Er sucht nach Worten. »Ich wollte zu Ihnen.«

 

Mir rutscht das Herz in die Hose. »Zu mir?« Ich gebe mich betont ahnungslos. »Wieso?«

 

»Sie haben mich erkannt. Das habe ich gesehen«, sagt er, mehr zu sich selbst. Einen Funken Zweifel in der Stimme.

 

Den sollte ich für mich nutzen. Zuerst will ich meine unsichtbaren Fühler nach seinem Herzen ausstrecken, um einen Einblick in sein Inneres zu bekommen. Doch die Magie in mir rührt sich nicht. Das wäre nicht richtig. »Tut mir leid. Ich ...«

 

»Sie haben mir das Leben gerettet«, platzt er heraus.

 

»Das ... daran würde ich mich doch erinnern. So etwas würde doch niemand vergessen.« Die Worte würze ich mit einem falschen Lächeln. Ich muss hart schlucken.

 

Je näher er mir kommt, desto bohrender wird sein Blick. Als könnte er damit meine Erinnerung freilegen. Doch die ist längst da, seit ich ihn in der Schlange erblickt habe. »Ich hatte einen Unfall. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen. Die Sanitäter hatten mich schon aufgegeben.«

 

Moms Mund klappt auf und ihre weit aufgerissenen Augen huschen zwischen mir und seinem Rücken hin und her. Sie bleibt noch immer still, aber in ihrem Blick spiegeln sich gleichermaßen Panik und Vorwurf.

 

Jetzt wird es gefährlich. Ich muss dem dringend einen Riegel vorschieben. Eiserner Wille. »Klingt so, als haben Sie denen Ihr Leben zu verdanken.«

 

»Nein. Keine Ahnung, was Sie getan haben, aber als ich wieder aufgewacht bin, war da Ihr Gesicht und ...«

 

»Sie müssen mich verwechseln.« Meine Stimme wird unnachgiebiger.

 

Er schüttelt erneut den Kopf. »Seitdem sehe ich Ihr Gesicht jede Nacht in meinen Träumen. Ich irre mich nicht.«

 

»Sie suchen eine ganz andere Art von Hexe. Ich braue Tränke, nichts weiter. Was Sie da beschreiben, sind die Fähigkeiten einer Herzhexe«, sprudelt es in meiner Panik aus mir heraus, »und die sind verboten. Das kann also nicht sein.«

 

»Sie haben mich erkannt«, beteuert er.

 

»Habe ich nicht.«

 

»Sie haben mich erkannt und sind weggelaufen.«

 

»Ich brauchte Gurken«, erkläre ich schulterzuckend.

 

»Wofür braucht man in einem Café Gurken?« Er runzelt die Stirn, was seinen Blick noch dunkler werden lässt, und ich erschrecke kurz über das Hüpfen in meinem Bauch.

 

»Sandwiches.«

 

Jetzt herrscht erst einmal Stille. Weil wir uns wohl beide fragen, wieso in diesem Gespräch gerade die Worte »Gurken« und »Sandwiches« gefallen sind. Wir sehen einander an und es ist, als würden wir in Gedanken über unser Erkennen sprechen. Gänsehaut bildet sich in meinem Nacken.

 

Nach einer Weile ist er es, der seine Stimme zuerst wiederfindet. »Wieso lügen Sie?«

 

Mein erster Instinkt ist es, einen Witz zu machen. Die Situation ins Lächerliche zu ziehen. Doch, wir führen Sandwiches in diesem Café. War Castors Idee damals. Aber ich kann nicht. Bei der Enttäuschung in seinem Gesicht ... am liebsten würde ich ihm auf der Stelle die Wahrheit sagen. Ich hatte dein Herz in der Hand. Ich konnte dich nicht sterben lassen. »Ich lüge nicht«, hauche ich stattdessen. Flehe im Stillen. Bitte, bohr nicht weiter.

 

Er mustert mein Gesicht. An seiner Mimik kann ich erkennen, wie er die Erinnerung an mich aus seinen Träumen hervorholt und jede Kante vergleicht. Mit mir, wie ich ihm ganz real gegenüberstehe. Rote, üppige Locken, die meine eckige Kopfform umschmeicheln. Grüngraue Augen, hohe Wangenknochen, meine markanten Augenbrauen und vollen Lippen.

 

Als er sich ohne Vorwarnung umdreht, zucke ich kurz zusammen. Er rauscht an Mom vorbei, die ihn freundlich anlächelt. Als hätte es ihren vorigen Gesichtsausdruck des bloßen Horrors nie gegeben. Aber er ist kaum außer Sichtweite, da kehrt all die Anspannung zurück.

 

Sie springt auf mich zu und greift grob nach meinen Oberarmen. »Was hast du getan?«

 

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